Die Legende von den Klebreiskuchen

 

Das Neujahrsfest in Vietnam ist undenkbar ohne die beruehmten Klebreiskuchen. Der viereckige Bánh chung symbolisiert die Erde und der suesse runde Bánh dày, der im Sueden des Landes verbreiteter ist als im Norden, ist das Symbol fuer den Himmel. Frueher haben die meisten Familien ihre Klebreiskuchen selbst hergestellt. Heute geht man immer mehr dazu ueber, die Neujahrsleckerei fertig zu kaufen, denn die Herstellung ist doch mit einem ziemlichen Aufwand verbunden. Bei uns auf dem Dorf wird er aber noch selbst gemacht.

 

Die Geschichte der Klebreiskuchen geht einer alten Legende nach auf die Zeit der Hùng-Koenige und ihrer Hồng Bàng Dynastie (2879-258 v.B.d.Z.) zurueck. Wie jede uralte Legende wird auch diese in unzaehligen Versionen erzaehlt. Hier ist eine davon:

Als der sechste Hùng-Koenig alt wurde, beschloss er wie jeder weise Koenig, den Thron einem seiner Soehne zu ueberlassen. Von seinen zweiundzwanzig Soehnen schien ihm aber keiner dieser Aufgabe gewachsen. "Mein Nachfolger muss nicht nur die richtige Person sein", dachte der Koenig, "meine Entscheidung darf auch kein Grund für Streit und Unruhe sein." Er gruebelte sehr lange, um eine Loesung zu finden, aber auch die vielen Vorschlaege seiner Berater brachten keinen Erfolg. Eines Morgens wurden schliesslich alle zweiundzwanzig Prinzen in den Palast gerufen. "Seid gegruesst, Soehne", rief der König, "ich bin alt und werde bald sterben. Deshalb will ich einen von euch auswaehlen, der nach mir den Thron besteigen und das Reich regieren soll."

 

Die Anwesenden schauten sich an, alle hofften, der Glueckliche zu sein. "Bald findet das Tết-Fest (das vietnamesische Neujahr) statt. Wie ihr alle wisst, bringen wir zu diesem Anlass unseren Vorfahren Opfergaben dar. Derjenige, der mir die Speise bringt, die dem Fest am angemessensten ist, wird mein Nachfolger sein." Ueberrascht beeilten sich die Prinzen, den Palast zu verlassen. Ein jeder rief seine treuesten Diener und begann die Suche nach der besten Speise, die dem alten Vater im Tausch mit dem Thron ueberreicht werden sollte. Waehrend die Pferde durch die Waelder galoppierten, die Boote Fluesse und Seen ueberquerten und die Mutigsten die Berge bestiegen, dachte einer der Prinzen in seinem bescheidenen Zimmer nach, wie er diese scheinbar unmoegliche Aufgabe bewaeltigen sollte. Die Mutter von Lang Liêu, dem achtzehnten Sohn des Koenigs, war tot und so musste er ohne jegliche Hilfe zurechtkommen.

 

Mit den Haenden unter dem Kopf lag der Prinz auf seinem Bett. Als ob er dort die Loesung des Problems finden koennte, starrte er die Zimmerdecke an, bis er endlich einschlief. Im Schlaf hatte er einen Traum. Seine Brueder und er waren dabei, Speisen fuer den Koenig zuzubereiten, als ihnen ploetzlich ein Geist erschien erschien, der wie eine Frau aussah. Der Geist naeherte sich Liêu und fluesterte: "Liêu, auf dieser Welt gibt es nichts, das groesser ist als Himmel und Erde, und nichts, das wertvoller ist als Reis. Ich werde dir zeigen, wie man ein Gericht zubereitet, das alle drei dieser Sachen beinhaltet". Nachdem der junge Liêu dem Geist die verlangten Zutaten gebracht hatte, begann dieser die Speise zuzubereiten.

 

Er nahm ein bisschen Klebreis und gab ihn auf ein gruenes Blatt. Dann fuegte er Bohnen, Salz, Pfeffer und Schweinefleisch, das mit Fischsauce gewuerzt war, hinzu. Er bedeckte alles mit mehr Reis und formte daraus ein Rechteck. Zum Schluss huellte er den Kuchen in ein Blatt und band es mit Bambusstreifen zusammen. "Diese Speise", erklaerte der Geist, "stellt die Erde dar. Wie die Erde ist sie rechteckig und mit gruenen Blaettern bedeckt. So wie Pflanzen und Tiere Teil der Erde sind, sind Fleisch, Bohnen und Fischsauce Teil des Gerichts. Jetzt muessen wir den Kuchen nur noch in Wasser kochen, damit er lange frisch bleibt. Das Gericht hat den Namen Bánh chung."

 

Der Geist nahm dann nochmals einen Krug voll Klebreiseis, machte daraus mit Moerser und Stoessel eine feste Masse und bereitete flache, runde Suessigkeiten vor. "Diese Suessigkeiten sind rund wie der Himmel. Sie heissen Bánh dày." Plötzlich oeffnete Liêu seine Augen, der Traum war zu Ende. Ohne Zeit zu verlieren, bereitete der Prinz das Gericht vor, das ihm der Geist im Traum gezeigt hatte, eine Speise, die eckig war wie die Erde und eine rund wie der Himmel.

Am Neujahrstag, herrschte grosse Aufregung im Koenigreich. Aus allen Doerfern kamen die Leute, um im Palast dem Wettbewerb der Speisen und der Kroenung des neuen Koenigs beizuwohnen. Wie es die Tradition wollte, begann die Verehrung der Vorfahren, als die ersten Sonnenstrahlen die Erde erwaermten. Die Luft war erfuellt vom Klang der Trommeln und der Gongs, farbenpraechtige Fahnen wehten im Wind und die Jubelrufe der Menschen fuellten Strassen und Haeuser.

Aus den entferntesten Regionen des Koenigreichs hatten die Prinzen Gerichte verschiedenster Art und Geschmacks gebracht. Ohne Eile kosteten weise Richter eines nach dem anderen, verglichen, prueften und kritisierten. Als sie die Speise des Prinzen Liêu probierten, waren sie sehr erstaunt. Wie konnte ein so einfaches Gericht nur so koestlich schmecken? Sie riefen den Koenig, damit er selbst die Speise kostete. Auch der war begeistert vom Gericht des jungen Sohnes. Er rief ihn zu sich und fragte, wie er das Gericht zubereitet hatte. Liêu erzaehlte ihm vom Geist, der ihm im Traum erschienen war.

 

Am Nachmittag verkuendete der Koenig seine Entscheidung. "Mein achtzehnter Sohn wird zum Koenig gekroent werden und den Thron besteigen. Das Gericht, das er zubereitet hat, ist nicht nur wegen des Geschmacks einzigartig. Es hat auch eine wichtige Bedeutung. Mit seinen einfachen Zutaten, die jeder anbauen kann, ehrt es Himmel und Erde und ehrt auch unsere Vorfahren. Die Speise zeigt, wie wichtig die Ahnen sind, so wichtig wie Himmel und Erde. Auch wenn der Kuchen einfach aussieht, kann ihn nur ein rechtschaffener Mensch mit großem Talent zubereiten."

 

So wurde der Prinz Liêu zum siebenten Hùng-Koenig gekroent. Seitdem bereitet das vietnamesische Volk zum Neujahrsfest immer Bánh chung und Bánh dày zu, um die Vorfahren zu ehren.